mercredi 20 août 2014

Leben unter Bedrohung -- Nelly Sachs


Zeit unter Diktat. Wer diktiert? Alle! Mit Ausnahme derer, die auf dem Rücken liegen wie der Käfer vor dem Tod. Eine Hand nimmt mir die Stunde fort, die ich mit dir verbringen wollte. Sie nimmt mir diese Samentüte daraus blaue Blumen sprießen sollten ohne einen Hauch von violett, das schon an Untergang erinnert. Ohne zu wollen atme ich im Garten einen Duft, aber die Rose ist schon anderen zugesprochen. Bereite dir aus Krumen eine Mahlzeit denn du bist krank und ich liebe dich so. Um dich zu retten möchte ich dich in einen Buchfink verwandeln, der vor dem Fenster an einem Blatt hä ngt, das der Frühling ihmschenkte. Aber der Frühling hat uns den Rücken zugekehrt. Blüht aus der Fäulnis. Wolken da oben. Wettbewerb im Sterben. Herrliches Fortziehn. Von dieser Erdenkugel abstoßen zu dürfen, diese Wurzelfüße herauszureißen. Gnade, Gnade des Nichtmehr- Sein-dürfens. Höchster Wunsch auf Erden: Sterben ohne gemordet zu werden.

Woran sind wir gebunden? Warum kçnnen wir uns nicht rühren? Warum nicht wie unser großer Hund den ich nicht mehr sättigen konnte herausgereicht werden aus solchem Umkreis an die Schüsseln einer sorgenfreien Küche?


Du hast nichts mehr gegessen. Was ich mit Lebensmühe hereinholte. Der Bissen blieb im Halse stecken. Die Angst hatte ihn mit ihrer schwarzen Hefe aufgebläht.


Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte in denen das Recht sich häuslich niedergelassen hatte. Schritte stießen an die Tür. Sofort sagten sie, die Zeit gehört uns!


Die Tür war die erste Haut die aufgerissen wurde. Die Haut des Heims. Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer. Aus der Familie wurden Teile ausgeschnitten, Teile, die in die weit fort eroberte Zeit verfrachtet wurden. In die Zeit der gekrümmten Finger und der starken Schritte. Mit der die Vögel zogen mit dem Angesicht des Frü hlings.


Und dies geschah auf dieser Erde. Geschah und kann geschehn. Und das Kind hatte neue Schuhe bekommen und wollte sich nicht von ihnen trennen. Und im Blick des Greises lag schon Gottes-Auszug-Asche.


Und ichwar angebunden an einen Traum. Ein Traum aus Fingern und Schritten. Aß mich satt an der Angst. Die Gerüchte saugten wie Blutegel. Die Nacht war der Rahmen um den Henker in der Kraft unterm Hautwams, über schwanengebogenem Rücken den Taktstock der Zeit.


Fünf Tage lebte ich ohne Sprache unter einem Hexenprozeß. Meine Stimme war zu den Fischen geflohen. Geflohen ohne sich um die übrigen Glieder zu kümmern, die im Salz des Schreckens standen. Die Stimme floh, da sie keine Antwort mehr wußte und »sagen« verboten war.


Und alle begegnenden Augen waren winterlich geworden. Fielen ab; gaben die Blicke woanders hin, dort wo das Recht die Zeit am Nakkenfell nahm.


Meine Hand war eine Waise, verlernte den Gegendruck. Unter Bedrohung leben: im offenen Grab verwesen ohne Tod. Das Gehirn faßt nicht mehr. Die letzten Gedanken kreisen um den schwarzgefärbten Handschuh der die Eintrittsnummer zur Gestapo verdunkelte und fast das Leben kostete. Angstschweiß hatte unsichtbar zu bleiben.


Nein, das Gehirn faßte längst nicht mehr. Was war das: Leben kosten? Mit den Wolken eilen? Wohin? Dahin? Das Angesicht des Frühlings sehn? Wozu? Abfallen von dem Pfahl der Zeit an den ich angebunden stand und rieselte nur mit der Sehnsucht.


Leben unter Bedrohung!

Der Himmel gespiegelt in der glanz-geputzten Gürtelschnalle eines Bevollmächtigten der Zeit?


Eine Nachricht kam. Und die Nachricht verschluckte ich. Das war mein Angelhaken. Aufgehängt an der Luft.


Und das geschieht auf Erden? Und kann geschehn auf Erden? Sonntäglich bist du in deinem neuen Kleid. Du erzählst wohl deinen Kindern Märchen von Wölfen deren Opfer wohlbehalten aus dem Verschlucktsein kriechen?


Es sind viele Wunder geschehn. Ich las darüber. Aber wie sollen die Wunder zu dem kleinen Haufen gelangen, der da isoliert im Stacheldraht zittert. Auch die Wunder haben wohl Angst. Sie ziehen dorthin wo der Feldherr steht, der sie wie eine Scheibe Weißbrot vom Mond abbricht.


Und das geschieht – Gott leg mich in Nacht und schweige – Aber das ist ja ganz unwirklich was hier geschieht – Fakierkünste die lassen die Erdkruste aufspringen bis die roten Feuerwurzeln wie Peitschen herausfahren.


Wirklich ist der Blick des Kindes, das sich mit den neuen Schuhen an den Henker wandte. Wirklich sind die Abschiedsfäden, die bis auf die Seele zerrissenen, die aus den wunden Leibern hingen, das ganze Leidenswerk was hier gewirkt wurde – die ins Dunkel tropfende Liebe.


Abstoßen von dieser Kugel, in die Flucht, in das Dunkel, das Meer der Unsicherheit darein sich Abraham, der Erste mit dem Stemmeisen der Sehnsucht warf. Wohin – dahin –.


Fassen und begreifen längst verlorenes Stückgut der Sehnsucht. Aber »Moriah« der Klippenabsturz zu Ihm, dessen Zeichen die Ferne ist.


Hier ist nichts mehr zu fassen, hier nicht! Aber eine weißglühende Explosion – Asche im Mund – die Augen erblindet vom Hiersein – und das Universum der Unsichtbarkeit – nur mit den Gestirnen der Seele – diese Briefe geschrieben ins Dunkel – adressiert weit hinter dem Meilenstein wo Sterben starb.


Alles dahin gelebte – Hier.


Alles dahin geliebte – Hier.


Feuer zu Blumensträußen gebunden und des Verrates verzweigte falsche Richtung.


Schwarzkunst des Henkers der die geheimen Gottesknechte in ihr Erwachen warf.


Nichts mehr – gar nichts mehr – aber ich weiß, ich fühle, ich schmecke – die Weltbahn geknotet mit der Sehnsucht aus Staub, deine Todesarbeit eingeritzt – im Sternbild der zerrissenen Kiefer des Fisches.


Sch’ma Israel des alten Volkes Todesgesang schrie aus den Kehlen derer die vor der schwarzen Mauer standen – ich weiß nicht wie die Mauer sank – aber ich weiß, daß sie schon vor dem Tode berstiegen war.

 



(publié en 1956 ; voir aussi ici)